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Liner Notes

Von Hans-Jürgen Linke

Es müssen Saiteninstrumente gewesen sein, die verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Musik und Mathematik offenlegten: Man sieht bei Saiteninstrumenten, dass Musik mit Proportionen zu tun hat. Auch das Klavier war ursprünglich ein Saiteninstrument.
Es könnten Perkussionsinstrumente gewesen sein, die irgendwann die Idee einer allgemein verbindlichen Einteilung der Zeit aufkeimen ließen.
Es waren wahrscheinlich die stimmähnlichen Luftsäulenschwingungen von Blasinstrumenten, die klar machten, dass Musik immer auch Botschaften von Mensch zu Mensch enthält.
Sprache scheint an der Entstehung von Musik nicht beteiligt zu sein. Unter anderem deshalb ist und bleibt es unmöglich, Musik zu beschreiben. Sprache kann sich der Musik nur annähern.

Ist Musik eine Kunstform? In früheren Zeiten galt sie eher als eine Form menschlichen Wissens von der Welt. Die größten und kompliziertesten Maschinen waren Orgeln, und zwischen Musik und Wissenschaft gab es keine klare Trennlinie.
Vier Jahrhunderte später sind einige der größten Maschinen der Wissenschaft gewidmet, die Musik hat sich bescheiden hinten angestellt. Auch als 2009 das Herschel Space Observatory in eine Bahn um den Lagrangepunkt L2 befördert wurde, war von Musik nichts zu hören. Das Herschel-Teleskop lieferte vier Jahre lang, tiefgekühlt mit flüssigem Helium, unter anderem optische Signale vom Rand des Sonnensystems, wo eine unbekannte Anzahl unterschiedlichster Himmelskörper unter dem Sammelnamen Transneptunische Objekte (TNOs) unterwegs ist. Ein weiträumig zusammengesetztes Astronomen-Team unter dem Projektnamen „TNOs are cool“ ist damit beschäftigt, transneptunische Objekte zu klassifizieren.
Wer aber war dieser Frederick William Herschel? Er war Astronom, geboren 1738 im Kurfürstentum Hannover, gestorben 1822 in London. Die astronomische Wissenschaft verdankt ihm manches, außerdem spielte er Cello, Oboe und Orgel, komponierte 24 Symphonien, zahlreiche Konzerte und Orgelstücke.

Im Jazz stand eine enge Beziehung zu den Wissenschaften zunächst auf keiner Tagesordnung. Jazz verstand sich als Entäußerung von Gefühlen durch musikalische Praxis, „heiß“ war in den Anfängen eines seiner typischen Attribute. Es dauerte gut vier Jahrzehnte, bis der Jazz sich das Attribut „cool“ gestattete. Cool Jazz war Ausdruck nicht verleugneter, aber gedämpfter und vielschichtiger, gebrochener Gefühle. Cool Jazz suchte eine Annäherung zwischen komponierter Musik und der Hitze der Schmelztiegel.
Wenn Matthias Ockert Signals From the Cool empfängt, dann ist das auch programmatisch gemeint. Seine Musik verarbeitet klangliche Einflüsse anderer Jazzmusiker. Sie ist metrisch und rhythmisch komplex, dabei oft tänzerisch, denn beides schließt sich nicht unbedingt aus. Ihr Klang und ihre Melodik sind vor allem von Saiteninstrumenten geprägt. Sie arbeitet mit Rock-Elementen ebenso wie mit aleatorischen Anteilen. Sie ist sorgfältig auskomponiert und ausbalanciert, aber sie braucht keine Musiker, die spielen, was auf dem Blatt steht. Sie entwirft sich als kollektiven Arbeitsprozess, der jeden in die Verantwortung nimmt, niemanden allein lässt – auch nicht in den Soli, für die sie immer wieder Räume frei macht – und alle zum genauen Mithören nötigt. Matthias Ockerts Musik klingt nicht nur wie, sie ist auch Jazz, aber sie macht jeden Gegensatz zwischen Jazz und Komposition obsolet.

Und dann sind da noch die Signale aus der Kälte am Rande des Sonnensystems. Das Herschel Weltraumteleskop hat sie weitergeleitet, aus der Ferne etlicher Lichtminuten. Matthias Ockert hat sie zu Klängen verarbeitet und der Musik beigemischt. Sie hinterlassen Spuren in ihr, wir wissen und hören nicht genau, welche. Aber sie sind da. Sie stören nicht die Ordnung der Musik. Sie sind ein Teil von ihr.

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